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Zur Entwicklungsmisere in der deutschen Luftwaffe 1939 - 1945

Es fällt nicht schwer, das Unterfangen, den nordamerikanischen Kontinent mit Maschinen vom technischen Stand des Zweiten Weltkriegs von Europa aus angreifen zu wollen, als undurchführbar abzutun [1]. Zumal ein praktischer Nachweis unterblieb. Mit Sicherheit hätte ein solches Projekt, und sei es letzten Endes nur um weni-ge einsetzbare Maschinen gegangen, einen gewaltigen Aufwand an Konstruktion, Bau und Unterhalt bedeutet, eine riesige Herausforderung, die vor dem Hintergrund der militärisch-wirtschaftlichen Situation des Dritten Reichs utopisch erscheint.

 

Das bedeutet jedoch nicht, dass die o.a. Schwierigkeiten das Projekt des Fernstbombers zu Fall brachten. Beson- ders pikant ist hier die Tatsache, dass Adolf Hitler den Fernstbomber zu einer ganzen Anzahl Gelegenheiten for-derte [2], von seinen Leuten aber um diese Chance gebracht wurde.

 

Je größer ein Projekt, umso leichter ist es zum Scheitern zu bringen, denn die Anzahl der Fehlermöglichkeiten steigt mit der Komplexität exponentiell an. Nur besonders brachiales Durchgreifen, verbunden mit exakter Arbeit bzw. ihrer lückenlosen Überwachung, hätte hier Erfolg versprochen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wirklichkeit war davon so weit entfernt, wie es weiter nicht sein kann. Nach dem Erstflug der Messerschmitt Me 264 geschah praktisch nichts. Die Maschine wartete monatelang auf den Austausch der Jumo 211-Motoren durch BMW 801 [3]. Von Demonstrationsflügen ihrer Superreichweite ist nichts bekannt. Schließlich fiel die Ma-schine im Sommer 1944 einem alliierten Luftangriff zum Opfer [4]. Material für 30 Exemplare war bereitgestan-den [5], es wurde aber keine weitere fertiggestellt.

 

 

 

 

 

Die Dokumente zeigen ein ewiges Hin und Her, ob die Me 264 nun gebaut werden soll oder nicht [6]. Mit allen möglichen Scheinargumenten werden die Leistungsmöglichkeiten der Maschine kleingeredet. Dabei blockierte die Maschine gar keine Kapazitäten, vielmehr hätten diese für sie erst geschaffen werden müssen (Messer-schmitt erwartete völlig zu Recht "Zustrom von Konstrukteuren" [7]. Die hätte man eben ausfindig machen und auf das Projekt umsetzen müssen). Letzten Endes wurde die Maschine schlicht verbummelt.

 

Die Behauptung, die ab 1944 notwendige Jägerfertigung hätte die Weiterbearbeitung von Bomberprojekten, und ausgerechnet von solchen deratigen Ausmaßes nicht mehr zugelassen, trägt schon das Geständnis des Schei-terns des komplett defensiven Luftkriegs in sich. Denn, wäre er erfolgreich gewesen, hätten keine Bomber zur Verfügung gestanden, um den Defensiverfolg auszunutzen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass ohne Fernstbomber eine notwendige offensive Atlantikkriegführung nicht möglich war.

[1] So die Schlussfolgerung von Horst Boog {2}, >>Baedeker-Angriffe<< und Fernstflugzeugprojekte 1942. Die strategische Ohnmacht der Luftwaffe (Auf-satz), S. 10 (gedruckte Seitennummer 100 in Militärgeschichtliche Beiträge Band 4, E. S. Mittler & Sohn, Bonn/Herford 1990).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[2] Jochen Thies, Architekt der Weltherrschaft, Die >>Endziele<< Hitlers, Athe-näum/Droste Taschenbücher Geschichte, Königstein im Taunus/Düsseldorf 1980, widmet einen ganzen Kapitelabschnitt dem Thema "Hitler und das Fern-bomberprojekt Me 261/264" S. 136 - 147. Hitler verlangte 1940/41 die Einnah-me der Azoren, um den nordamerikanischen Kontinent mit Langstreckenbom-bern angreifen zu können (S. 142f). Die Marine musste ihm erst erklären, dazu außerstande zu sein (S. 146f). Andererseits meinte er 1943, eine Bombardie-rung amerikanischer Städte würde nur den Widerstand der amerikanischen Bevölkerung anstacheln (S. 145, so auch bei Neitzel, S. 209 Anm. 43). Im Sep-tember 1943 ist er "darüber ungehalten, dass die weitreichende Maschine von Messerschmitt von der Luft noch nicht aufgegriffen wurde" (Budraß {1}, S. 863). Dann forderte er wieder im August 1944, die Me 264 müsse unbedingt gebaut werden (Thies, S. 145, ebenso 440805 590). Messerschmitt hatte die Produktion einer geringen Stückzahl "ohne Vorrichtungsbau" in Aussicht ge-stellt (Baumbach, S. 159). Geschehen ist jedoch nichts.

 

[3] Neitzel, S. 208, Anm. 42. Robert Forsyth, Eddie J. Creek, Messerschmitt Me264 Amerika Bomber. The Luftwaffe's Lost Transatlantic Bomber, Ian Allen Publishing Ltd., Hersham, Surrey 2006, S. 94/97, August 1943 bis Januar 1944.

[4] Manfred Griehl {2}, Luftwaffe over America, Greenhill Books, London, und Stackpole Books, Mechanicsburg PA, 2004, S. 196 (18.07.1944).

[5] Ds., S. 146 (März 1943).

 

[6] Die Maschine wurde zunächst positiv bewertet, obwohl ein "richtig unter-bauter militärischer Einsatz" mit ihrer Konfiguration nicht möglich erschien. Sie wurde jedoch als "wichtige Zwischenstufe" erachtet (so die Einschätzung des Untersuchungsbeauftragten Generalmajor Carl-August von Gablenz zur Generalluftzeugmeister-Situng vom 18.05.1942, NASM R 3828 F 475, über-nommen 420519 607). Die folgenden Bewertungen sind:

positiv (421009 196 - 198, Milch stimmt der Entwicklung der "Zwischenstufe" weiter zu),

negativ (421030 281, "keine zuverlässigen Daten"),

positiv (430305 074 - 075, "muss gemacht werden"),

negativ (430427 308 - 309, Maschinen dieser Sorte unterliegen einem gewaltigen Startrisiko...),

negativ (430615 058 - 062, [Ia im Stab des Generals der Aufklärungsflieger Friedrich-Wilhelm] Berlin [8] hat die Maschine geflogen, will aber lieber die Focke-Wulf Ta 400, obwohl die Fertigstellung auch nur eines Versuchsexem-plars derselben sich noch in weiter Ferne befindet und letzten Endes nie verwirklicht wurde),

und wieder positiv (430820 337 - 343, die Maschine muss mit "aller Gewalt" her, da aus der He 177 B kein Fernbomber wird).
Zeitgleich mit der Zerstörung der V-1 [4] gab der Kommandeur der Erpro-bungsstellen Petersen, der die Maschine als Projekt im Mai 1942 noch positiv bewertet hatte (07.05., NASM R 3828 F 466), eine ausgesprochen negative Be-urteilung ab (18.07.1944, Forsyth & Creek zitieren auf S. 107 Griehl, dessen S. 195, die Quelle des deutschen Originaltextes "Technische Bemerkungen zur Studie 1036 aufgrund der derzeitigen Erprobungslage" findet sich laut Stilla, S. 130 (dort in anderem Zusammenhang zitiert), in BA/MA RL 36/54.

Dieses Originaldokument befindet sich auch auf dem aus dem Internet als PDF herunterladbaren Mikrofilm T321-0059 des US-Nationalarchivs unter dem Link https://catalog.archives.gov/id/316029492, S. 275 - 278, speziell zur Me 264 S. 277 (Frame-Nr. 4807193). Auf S. 278 befindet sich Petersens Unter-schrift. Für den Hinweis auf den Link danke ich dem Luftfahrthistoriker Peter Achs.

Dennoch und trotz allgemeinem Bomberstopp ist auch im Spätsommer 1944 die Me 264 noch nicht endgültig raus. Die Verantwortung für die Flugzeugpro-duktion war in der Zwischenzeit an den Rüstungsstab übergegangen. In des-sen Sammelberichten (<- Link, enthalten im Konvolut BA/MA RL 3/12) finden sich für die Me 264 folgende Eintragungen (die Seitennummerierung ist nicht datumsgetreu):
S. 6854, 21.08.: "Unterbringung Me 264 laut HA [wohl ein Hauptausschuss gemeint] in Ordnung."

S. 6819, 30.08.: Einstufung der Me 264 in die [hohe] Dringlichkeitsstufe "I SS 4940".

S. 6814, 02.09.: Für die Me 264 werden 200 Vorrichtungsbauer benötigt (vgl. Schluss Anm. [2]).

S. 6808, 04.09.: "Durchsprache weiterer Maßnahmen..." mit folgender Erwäh-nung auch der Me 264.
S. 6773, 18.09.: "[sog. Vergeltungswaffen] V1, A4 und Me 264 dringend".

Praktische Maßnahmen sind aber weiter nicht zu erkennen. Das tatsächliche Ende kommt dann erst eine Woche später:
S. 6760, 25.09.: Angesichts der allgemeinen Kriegslage befiehlt Hitler, die Me 264 und [den Düsenbomber Junkers] Ju 287 einzustellen.

Auch für die Hinweise auf die Rüstungsstab-Eintragungen danke ich dem Luftfahrthistoriker Peter Achs. Am 06.09.1944 war die Me 264 laut einer ihm vorliegenden Fundstelle (HAF/D (Hauptausschuss Flugzeugbau): Tagesnotiz Nr. 1 vom 06.09.44. I. Ergebnisse der Morgenbesprechung) bereits wieder einmal "gestrichen".

 

[7] 430708 330 - 333. Das Fehlen von "75.000 Konstrukteursstunden" (430322 075 - 076, siehe auch Neitzel, S. 161) hört sich schlimmer an, als es ist. Bei einer Arbeitsbelastung von 50 Stunden pro Woche, was im Krieg vielleicht nicht ganz unrealistisch ist, schaffen 1.500 Konstrukteure den Aufwand inner-halb einer Woche! Genügend Menschen mit zeichnerischer Begabung hätte man eben ausfindig machen und nötigenfalls in Steilkursen ausbilden müs-sen, auch unter Verzicht darauf, sie in der Infanterie an vorderster Front zu verheizen. Ansonsten stand dem NS-Staat durch sein Zwangsarbeitssystem ein [ohne jede Einschränkung formuliert] "unerschöpfliches Arbeitskräftere-servoir" (Budraß {1}, S. 800) zur Verfügung. Soviel zu Neitzels Behauptung, Hit-ler hätte die notwendigen Kapazitäten nicht "herbeizaubern" können (ebenso S. 161). Was Hitler tatsächlich nicht konnte, war, die Blockadehaltung seiner verantwortlichen Untergebenen zu durchbrechen. Bei Thies erscheint Hitler als "Düpierter" (S. 145).

 

[8] Luftwaffe Officers with Career Notes - The Luftwaffe, 1933-45, E-Buch.

 

Neu hinzugekommene Literatur:

Ernst Stilla, Die Luftwaffe im Kampf um die Luftherrschaft, Inaugural-Dissertation, Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 2005, http://hss.ulb.uni-bonn.de/2005/0581/0581.pdf