Betrachtet man die Flugzeugentwicklung in Deutschland im Zweiten Weltkrieg, stellt man einen merkwürdigen Spannungszustand fest: zwischen der erfolgreichen Luftwaffe zu Kriegsbeginn und den technisch überlegenen Entwicklungen (gemeint sind hauptsächlich die Düsenmaschinen und Raketenwaffen) zu Kriegsende findet man eine Stagnationsphase, wo nichts vorwärtszugehen scheint und was sich wohl mit entscheidend nega-tiv auf den Kriegsverlauf ausgewirkt hat. Horst Boog formulierte: "... daß die Luftwaffe mangels rechtzeitiger Neuentwicklungen am Ende des Krieges im wesentlichen mit den gleichen, inzwischen veralteten und hoffnungslos unterlegenen Flugzeugmustern kämpfte wie zu Beginn." (S. 49)
Zur Erklärung dieser Stagnationsphase, die wir hier "Entwicklungsmisere" nennen, existieren viele, hauptsächlich typenbezogene Versatzstücke innerhalb der vorliegenden Literatur, aber bis dahin keine ausreichende Gesamtschau. Auch Boogs o.a. sehr ausführliche Schrift taugt dazu nicht, da sie sich nicht oder wenig auf technische Einzelentwicklungen bezieht, was wohl bei ihrer großen Bandbreite nicht auch noch möglich war. Das technische Auf-der-Stelle-Treten ist dabei auf keinen Fall die einzige Ursache der gesamten Misere (weitere Aspekte werden im Verlauf betrach-tet). Dabei wurde keineswegs gar nichts entwickelt, sondern zu praktisch allen vorhandenen Typen erschienen immer neue Varianten, von denen einige (z.B. das Jagdflugzeug Messerschmitt Bf 109 K oder der schwere Jäger/Zerstörer Junkers Ju 88 R) zu Kriegsende den gegnerischen Ma-schinen wenigstens einigermaßen gewachsen waren. Ebenso kam im Verlauf des Krieges eine ganze Reihe an Neuentwicklungen an die Front. An erstklassigen Typen (Kampf- und Transportflugzeuge, keine Segel-, Schul- oder Verbindungsflugzeuge) lassen sich wenigstens 14 Stück aufzählen (der angegebene Zeitraum ist in etwa zu sehen, das genaue Datum ist meist schwer zu ermitteln), auch wenn der Erfolg des Öfteren zweifelhaft erscheint und/oder die produzierte Stückzahl wenig ins Gewicht fällt:
1) 12/40 der mittlere Bomber Dornier Do 217
2) 08/41 das Jagdflugzeug Focke-Wulf Fw 190
3) 01/42 das Panzerschlachtflugzeug Henschel Hs 129
4) 04/42 das Mehrzweckflugzeug Messerschmitt Me 210
5) 08/42 der schwere Bomber Heinkel He 177
6) 09/42 der Großtransporter Messerschmitt Me 323
7) 11/42 der Großtransporter und Seefernaufklärer Junkers Ju 290
8) 02/43 das Mehrzweckflugzeug Messerschmitt Me 410 (nach dem Misserfolg der Me 210)
9) 05/43 der mittlere Bomber Junkers Ju 188
10) 06/43 der Nachtjäger Heinkel He 219
11) 04/44 der Düsenjäger Messerschmitt Me 262
12) 05/44 der Raketenjäger Messerschmitt Me 163
13) 08/44 der Düsenaufklärer (und Behelfsbomber) Arado Ar 234
14) 01/45 das Jagdflugzeug Focke-Wulf Ta 152
Zugegebenermaßen basierten diese Typen z.T. auf bereits vorhandenen, und alle änderten am Ausgang des Krieges nichts.
Die Merkwürdigkeiten fangen spätestens damit an, dass nach dem Misserfolg der Luftwaffe in der Luftschlacht um England 1940/41 kein Um-denken oder Umsteuern einsetzte. Stattdessen herrschten schräge Vorstellungen: den Erfolg von Angriffen gegen die militärisch relevanten Ziele auf der Feindseite einzelnen Besatzungen aufzubürden (Boog, S. 188) oder überhaupt die alliierte Überlegenheit (in allen Gebieten) durch Ver-schleiß von Menschenmaterial (hier ebenso Flugzeugbesatzungen gemeint) auszugleichen (Budraß, S. 739f), nicht achtend der Tatsache, dass auch in diesem Bereich die Alliierten weit überlegen waren bzw. die Illusion der Überlegenheit des "arischen" deutschen Soldaten über seinen angeblich "rassisch minderwertigen" Gegner nichts als eine solche war.
Entgegen nicht selten bis heute andauernden "Rationalisierunsgsillusionen" wird in dieser Schrift die Haltung vertreten, dass ein Luftkrieg (im Weltmaßstab!) schon damals eine Vielzahl auf den jeweiligen Einsatzzweck optimierte Flugzeugmuster erforderte. Und entwickelt wurde, wie bereits gesehen, durchaus fleißig. Dennoch scheiterten die wesentlichen Entwicklungsvorhaben, oder erbrachten nicht bzw. sehr spät bzw. zu spät die erwarteten und auch benötigten Ergebnisse, was sich nicht nur an einzelnen Typen festmachen lässt, sondern an ganzen Flugzeugklassen. In der Folge wird sich hier auf den Bomberbereich konzentriert, wobei der Jagdflugzeugbereich zwar nur gestreift, aber trotzdem entscheidend be- leuchtet werden wird.
Im Einzelnen wird hier im ersten Teil der Misserfolg in den aufgezählten Flugzeugklassen behandelt:
Einige Bemerkungen werden im Schlusskapitel "Dem Ende entgegen" (2. Teil) zum Nachtjäger, dem (Panzer-)schlachtflugzeug und zum Hubschrauber fallen.
Im erwähnten zweiten Teil wird eine Personalisierung vorgenommen (so bereits auch in der Vorbemerkung). Dabei geht es im Einzelnen um
Verwendete Literatur:
Horst Boog {1}, Die deutsche Luftwaffenführung 1935 - 1945, Führungsprobleme, Spitzengliederung, Gen-eralstabsausbildung, DVA GmbH Stuttgart 1982.
Lutz Budraß {1}, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918 - 1945, Droste Verlag GmbH, Düsseldorf 1998